Adam Gosztolai, Forschungsgruppenleiter am Institut für Artificial Intelligence der MedUni Wien, hat einen "Starting Grant" des Europäischen Forschungsrats (ERC) mit einer Fördersumme von 1,5 Mio Euro für fünf Jahre erhalten. Ziel des Projekts ,,NEURO-FUSE" ist die Entwicklung einer mathematischen Theorie, die Aufzeichnungen einzelner Neuronen im gesamten Gehirn zu einem einheitlichen Modell verbindet, das globale Gehirnzustände vorhersagen kann.
Bei alltäglichen Aufgaben, wie dem Erreichen eines Busses auf dem morgendlichen Weg, koordiniert unser Gehirn die Aktivität von Neuronen in mehreren Regionen. Unser Hippocampus erinnert sich an die für die Aufgabe relevanten Objekte wie Bus und Bushaltestelle; unser präfrontaler Kortex misst die Zeit, die wir brauchen, um zur Bushaltestelle zu gelangen; unser visueller Kortex nimmt die visuelle Umgebung wahr; unser motorischer Kortex koordiniert Handlungen wie das Gehen und so weiter. Bisher war die Untersuchung solcher globalen Gehirnprozesse nur mit bildgebenden Verfahren wie fMRI und EEG möglich. Diese Techniken können jedoch nicht bis zu den einzelnen Neuronen vordringen; stattdessen sehen sie nur ein "verschwommenes" Bild der Aktivität vieler Neuronen auf einmal. Die neuesten elektrodenbasierten und optischen Aufzeichnungstechnologien ermöglichen zwar die Aufzeichnung der Aktivität vieler Neuronen, doch sind sie auf die Überwachung von fokalen Hirnregionen beschränkt, und welche Neuronen sie aufzeichnen, hängt davon ab, wie der Experimentator oder Chirurg die Elektrode einführt. Während diese fokalen Messungen ausreichen, um zu verstehen, wie Neuronen einfache Aufgaben, wie die Bewegung eines Muskels, koordinieren, erfordert die Untersuchung komplexer Verhaltensweisen das Verständnis der kollektiven Aktivität einzelner Neuronen in mehreren Regionen während komplexer Aufgaben. Die Verknüpfung der Aktivität einzelner Neuronen mit globalen Hirnzuständen ist auch für die Neurologie und Psychiatrie von großer Bedeutung, da Medikamente auf die Funktion einzelner Zellen wirken, während die gewünschte Wirkung auf die globale Hirnaktivität gerichtet ist.
Dieses ERC-Projekt zielt darauf ab, eine mathematische Theorie zu entwickeln, die Aufzeichnungen einzelner Neuronen im gesamten Gehirn zu einem einheitlichen Modell verbindet, das globale Gehirnzustände vorhersagen kann. Dazu werden Gosztolai und sein Team die dynamischen Motive in der Aktivität neuronaler Populationen finden und mathematisch charakterisieren, die in gewisser Weise "invariant" sind, d. h. sie hängen nicht davon ab, welche Neuronen die Forscher:innen aufzeichnen. ,,Wenn uns das gelingt, werden wir in der Lage sein, die Aktivität des gesamten Gehirns zu ,kacheln’, indem wir jeweils eine lokale Aufzeichnung vornehmen und die verbleibende Aktivität mithilfe unseres mathematischen Formalismus rekonstruieren", erklärt Gosztolai. ,,Wir träumen davon, mit dieser Methode ein ,Grundmodell’ zu erstellen, ein großes mathematisches Modell vieler einzelner Neuronen im gesamten Gehirn, das neuronspezifische Vorhersagen für verschiedene Aufgaben machen kann." Gosztolai geht davon aus, dass diese Technologie dazu beitragen wird, die globale Gehirnfunktion bei komplexen Aufgaben im Tierversuch vorherzusagen, so dass die Experimentator:innen weniger und besser informierte Tierversuche durchführen können. ,,Ich hoffe auch, dass die Überbrückung der Lücke zwischen den Aufzeichnungen einzelner Neuronen und der Neurobildgebung eine bessere klinische Diagnostik und die Vorhersage der Wirkung pharmazeutischer Interventionen ermöglichen wird."
Zur Person
Adam Gosztolai ist Forschungsgruppenleiter des "Dynamics of Neural Systems Laboratory" am Institut für Künstliche Intelligenz der Medizinischen Universität Wien und Research Affiliate am Department of Cognitive Sciences des Massachusetts Institute of Technology (MIT). Er studierte Ingenieurwesen und Mathematik am University College London und an der University of Cambridge und promovierte in Mathematik am Imperial College London. Nach seiner Promotion forschte Gosztolai als Postdoktorand an der École Polytechnique Férédale de Lausanne (EPFL) in den Bereichen Computational Neuroscience und maschinelles Lernen. Für seine Postdoc-Forschung erhielt er ein prestigeträchtiges Human Frontiers Science Foundation Fellowship. In seiner Forschung untersucht Adam Gosztolai die dynamischen Prozesse, die in der Aktivität einer großen Anzahl von Neuronen im Gehirn kodiert sind, um grundlegende Prinzipien herauszuarbeiten, wie diese kollektive Dynamik mit neuronalen Prozessen wie Kognition und motorischer Kontrolle verbunden ist. Sein Ziel ist es, diese Prinzipien auf die Entwicklung künstlicher neuronaler Systeme zu Übertragen, die die Funktionsweise des Gehirns nachahmen. In diesem Zusammenhang ist er fasziniert von der Zusammenarbeit zwischen Neurowissenschaften und künstlicher Intelligenz, insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung neuartiger Algorithmen, die generatives maschinelles Lernen für den Einsatz in Gehirn-Maschine-Schnittstellen in der Rehabilitation von Rückenmarksverletzungen nutzen.