Die deutsche Wissenschaftsjournalistin Sigrid März wird ISTA Journalist in Residence
Im zweiten Jahr seines Bestehens lädt das Journalist in Residence-Programm des Institute of Science and Technology Austria (ISTA) von April bis Juni die deutsche Journalistin Sigrid März auf den Campus ein. Als freie Wissenschaftsjournalistin mit mehrjähriger Erfahrung in der deutschen Medienlandschaft wird die ehemalige Forscherin im Dialog mit ISTA-Wissenschafter:innen fundierte Antworten auf Fragen von hoher gesellschaftlicher Relevanz finden. Lernen Sie Sigrid März in diesem Selbstgespräch kennen.
Sigrid, wie sieht für dich ein perfekter Tag aus?
Anders.
Das musst du erklären.
Wenn er wäre wie ein bereits vergangener Tag, wäre er vergebens. Denn er brächte nichts Neues.
Heißt das, du brauchst jeden Tag Trubel um dich herum?
Nein, ganz im Gegenteil. Für mich liegt das größte Glück in der Stille, beim Hinhören, in der Ruhe. Die finde ich draußen, im Wald, auf der Düne, am Meer - und häufig allein. Trotzdem ist dort nichts wie es gestern war, denn Natur kennt keinen Stillstand. Jeder Tag ist anders. Die große Eiche im Park trägt heute ein Blatt mehr als gestern. Auf der Wiese krabbeln heute andere Insekten als gestern. Der Bach fließt zwar um dieselbe Kurve, aber die Wassermoleküle sind dort nicht dieselben wie gestern.
Das ist jetzt aber schon ganz schön meta, oder?
Absolut. Aber das ist meine Inspiration und daraus ziehe ich Energie. Der perfekte Tag ist deshalb immer anders und gleichzeitig ähnlich: sonnig, trocken, etwa 22°C. Links die Nordsee, rechts karge Heidelandschaft mit viel Sand und ein paar Blümchen. Kaffee im Thermobecher, Blubberwasser und ne Tüte Lakritz im Rucksack, Kamera mit Makroobjektiv in der Hand. Dann beobachte und fotografiere ich, vor allem Kleingetier, Wildbienen, Käfer, Wanzen.
War das schon immer so?
Soweit ich mich erinnere, ja. Ich bin quasi im Dreck aufgewachsen, zwischen Tausendfüßern in der Laubstreu und alten Marmeladengläsern mit Schneckeneiern.
Da war das Biostudium eine logische Folge.
Schon, ja. Ich wollte etwas mehr verstehen, wie Leben funktioniert und woraus wir bestehen. Ich habe Abschlüsse in Genetik und Biophysik und anschließend in Münster am Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Zellbiologie promoviert. Alles in allem habe ich rund 20 Jahre geforscht, vor allem an molekularen Mechanismen von Blutgefäßen.
Mittlerweile arbeitest du als Wissenschaftsjournalistin. Warum?
Das deutsche Wissenschaftssystem toleriert keine Dauerforscher:innen ohne radikale Karriereambitionen. Aber kein Grund zu grollen, ganz im Gegenteil: Wenn ich heute Fragen stelle, um etwas zu verstehen, und seien sie noch so schräg oder absurd, wundert sich niemand, schließlich bin ich Journalistin. Fragen zu stellen ist mein Beruf. Ein Paradies für chronisch neugierige Menschen.
Worüber und für wen schreibst du?
Ich schreibe über Medizin, Forschung, Biotechnologie - sowas. Und das mache ich für etliche deutschsprachige Medien. Allerdings arbeite ich ja frei, bin also nirgendwo angestellt. Mit der Zeit kamen so ganz unterschiedliche Aufträge zusammen. Zum Beispiel redigiere ich auch, ich unterrichte Wissenschaftsjournalismus, habe Regisseur:innen bei einem Manuskript für einen Science-Fiction-Film beraten und just diese Tage kommt mein erstes Sachbuch über Endometriose auf den Markt, das ich gemeinsam mit einer Ärztin geschrieben habe. Aktuell arbeite ich außerdem an drei geförderten Journalismus-Projekten mit; es geht um einen KI-basierten Melde-Chatbot, ein Recherchekollektiv für evidenzbasierten Journalismus und eine Insekten-Kamera.
An solchen einem Projekt warst du auch vergangenes Jahr beteiligt, erzähl mal.
Ja, die poly-perspektivische Reportage ist ein innovatives, interaktives Erzählformat. Es erlaubt den Nutzer:innen, den Verlauf einer Geschichte mitzubestimmen und dabei verschiedene Perspektiven einzunehmen. Am besten selbst ausprobieren. An der Polyreportage habe ich als RiffReporterin mitgearbeitet, wo ich auch über Insekten und Biodiversität schreibe.
Kein Tag wie der andere eben. Zieht es dich deshalb ans ISTA?
Auch. Die Aussicht, viele schräge Fragen stellen zu dürfen, ist verlockend. Aber vor allem möchte ich offenbleiben, und das geht nur durch Veränderung. Raus aus dem Alltag. Ich bin der Meinung, es gibt für eine Journalistin nichts Schlimmeres als eingetretene Pfade und Stillstand.